Jedes Jahr im Herbst treffen wir uns für eine gemeinsames Familienwochenende irgendwo in der Region. So auch dieses Jahr am letzten Wochenende im September. Allerdings – the times they are a-changing‘ – waren in diesem Jahr zum ersten Mal mehr Erwachsene als Kinder mit dabei, zum ersten Mal trafen wir uns im „Schloss“ des CVJM in Unteröwisheim bei Bruchsal und zum ersten Mal reisten wir bewusst möglichst umweltfreundlich an: Der Tagungsort war so gewählt, dass die meisten Teilnehmenden mit der Bahn und einige sogar mit dem Fahrrad anreisten!
Thematisch hatten wir uns vorgenommen, das Thema „soziale Gerechtigkeit“ etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Holger Knoblauch stellte daher am Samstagvormittag zunächst in einer umfangreichen Präsentation zahlreiche Daten und Fakten vor. Über die Entwicklung der Mieten in Stadt und Land, die durchschnittlichen Ausgaben der in Deutschland Lebenden für Ernährung und Urlaub bis hin zu den Steuereinnahmen und Harz (IV)-Sätzen wurden viele Wissenslücken gefüllt. Holger ließ uns zwischendurch immer wieder schätzen, wo wir den deutschen Durchschnitt erwarten, aber auch wo unsere eigenen Ausgaben z. B. für Energie liegen, was unser durchschnittlicher Steuersatz ist etc. Über die Handy-App Mentimeter gaben wir alle gleichzeitig unsere Antworten ein und konnten über die vom Programm daraus in Echtzeit erstellten Graphiken sehr anschaulich vergleichen, wo im deutschen Spektrum die Mitglieder unserer Gruppe liegen.
Es wurde deutlich, dass einerseits Umverteilung in Deutschland bereits in einem erheblichen Maß stattfindet. Andererseits gibt es trotzdem auch in Deutschland immer noch fast 10 % der Bevölkerung, die auch nach den absoluten (also nicht nur relativ am Wohlstand der anderen gemessenen) Definitionen der EU für Armut als „materiell depriviert“ oder „erheblich materiell depriviert“ einzustufen sind. Die statistischen Daten zeigten auch, dass – wie aus der allgemeinen Diskussion bekannt – vor allem Alleinerziehende ein hohes Risiko haben, einen erheblichen Anteil eines ohnehin geringen Einkommens schon für die Miete auszugeben. Andere „Mythen“ wurden hingegen korrigiert. So sind die durchschnittlichen Mieten in Deutschland in den letzten Jahren sogar wieder gesunken. Die komfortable ökonomische Situation unserer Gruppe zeigte sich vor allem beim Urlaub: hier wurde deutlich, dass die meisten von uns erheblich mehr Geld für Urlaube ausgeben als der Durchschnitt der Deutschen – allein schon mehrere ND-Wochenenden, Werkwochen und Kongress pro Jahr können sich Menschen aus anderen Milieus nicht leisten.
Nach diesem Dateninput und gestärkt mit einem sehr leckeren Mittagessen und einem Kaffee bei herrlichem Spätsommerwetter im Hof des Schlosses wandten wir uns dann am frühen Nachmittag der Frage zu, wie sich die Milieus in Deutschland von der Moderne zur Spätmoderne gewandelt haben. Lars Börger stellte uns hierfür einige wesentliche Thesen des Sozialwissenschaftlers Andreas Reckwitz vor. Nach Prof. Reckwitz ist die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg dadurch charakterisiert, dass ein großer Teil der Gesellschaft zur Mittelschicht oder Arbeiterschicht gehörte, innerhalb derer jeweils ähnliche Wertvorstellungen und Lebensziele galten. Gesellschaftliche Rollenbilder waren klar definiert, ebenso die Präferenzen für eine der beiden Volksparteien. Ab dem Ende der Sechziger Jahre entwickelte sich die Gesellschaft dann immer mehr zur spätmodernen „Gesellschaft der Singularitäten“. Diese ist durch große individuelle Freiheiten gekennzeichnet, aber auch durch den Druck, sich möglichst einzigartig zu verhalten, um als erfolgreich angesehen zu werden. In diesem Kontext entwickelte sich eine „neue Mittelschicht“, für die die Werte und Konventionen der alten Mittelschicht zunehmend irrelevant werden. Die politisch präferierte Option für diese neue Mittelschicht sind häufig die Grünen. Die ehemaligen Volksparteien CDU und SPD hingegen tun sich schwer, Programme zu entwickeln, die sowohl die alte, als auch die neue Mittelschicht ansprechen. Die AfD hingegen zielt genau auf die Angehörigen der alten Mittelschicht ab, die in der Vielfalt der Spätmoderne nach den eindeutigen Wertvorstellungen suchen, an denen sie sich orientieren können. Insgesamt konstatiert Reckwitz, dass in der spätmodernen Gesellschaft die Unterschiede zwischen den einzelnen Milieus deutlich größer geworden sind. So kommt es, dass eine deutsche Managerin und ein japanischer Manager mehr Übereinstimmungen in ihren Vorstellungen eines gelungenen Lebens haben als Angehörige der alten und der neuen Mittelschicht in Deutschland.
Auch die Angehörigen der neuen Mittelschicht sind nach Reckwitz von der Vielfalt der Spätmoderne bisweilen überfordert. Er stellt fest, dass es bislang nur unzureichend gelungen ist, Strategien zu entwickeln, wie sich Frustrationen überwinden lassen, wenn sich der eigene Lebensweg dann doch nicht so einzigartig und unverwechselbar gestaltet wie gesellschaftlich erwartet. Ein Ansatz, den er vorschlägt und der auch zu der Herausbildung von mehr Gemeinsamkeiten der Bürger*innen über die Milieugrenzen hinweg führen soll, ist ein „einbettender Liberalismus“. In diesem stellt der Staat allen Bürgern eine gewisse Basisinfrastruktur zur Verfügung, wie z. B. öffentliche Schwimmbäder.
Beim anschließenden Spaziergang durch die Hügellandschaft des Kraichgaus diskutierten wir an diesem Punkt noch in kleineren Gruppen weiter. So kam z. B. die Idee von verpflichtenden gemeinsamen „Dienst an der Gesellschaft“-Tagen auf. Ein Richter in unserer Gruppe berichtete davon, dass „Sozialstunden“ bei jugendlichen Straftätern häufig den gewünschten Erfolg erzielen, da sich den Jugendlichen andere Perspektiven jenseits ihres angestammten Milieus bieten. Mehrfach wurde auch überlegt, wie Bildung zu einem gesellschaftlichen Grundkonsens beitragen kann und gleichzeitig verhindern kann, dass Menschen in prekären Verhältnissen leben.
Am Tag vor der Bundestagswahl waren all dies sehr aktuelle Überlegungen, auch wenn unsere Gruppe ihre Wahlentscheidung fast komplett bereits per Briefwahl getroffen hatte.
Im Übrigen hatten auch die Jugendlichen die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln. Sie arbeiteten am Samstag bei einem örtlichen Winzer bei der Weinlese mit und lernten, dass 2021 im Kraichgau kein gutes Jahr für den Wein war: durch den vielen Regen waren zahlreiche Trauben verschimmelt, sodass diese mühsam bei der Ernte herausgeschnitten werden mussten…
Und weil es schon so viel Neues und Diskussionen über gesellschaftlichen Wandel gegeben hatte, blieb das weitere Programm dann im altbekannten und bewährten Rahmen: am Sonntag gab es noch eine gemeinsame Wanderung, nachdem der Samstagabend am Lagerfeuer mit Erzählen, Diskutieren und Gesang zu Gitarrenbegleitung spät und sehr nett geworden war. Und natürlich haben wir auch „The times they are a-changin‘“ gesungen – ein Rückblick auf die letzten Jahrzehnte, aber auch schon Vorausblick auf den Ausgang der Bundestagswahl, wie sich dann am Sonntag zeigte.