Liebe ND – Geschwister,
seit meiner Pensionierung lebe ich wieder in meiner Geburtsstadt Hagen und wohne dortselbst im Alten- und Pflegeheim St. Franziskus.
Ob die einleitende kleine Geschichte sich genau dort oder anderswo abgespielt hat, bleibt Eurer Fantasie überlassen. Sie könnte auch erfunden sein. Also:
Weihnachtsfeier im Seniorenheim. Die Feier wird mit einer Bildmeditation eröffnet. Die Bewohner sitzen der Projektionsfläche zugewandt, hinter ihnen der Projektor.
Ein wunderschönes „Krippenbild“ ist auf der Leinwand zu sehen; doch mitten im Bild der dunkle Schatten eines Kopfes: Es ist die etwas unbeholfene Frau Müller, die sich da mitten in den Lichtkegel gesetzt hat.
„Frau Müller, rücken Sie doch zur Seite, Sie sitzen im Bild“,
wird ihr von mehreren Seiten zugerufen.
Etwas verstört rückt sie beiseite. Jetzt ist das Bild makellos; alle sind zufrieden und die Feier kann beginnen.
Haben nicht manche von uns genau diesen .Weihnachtswunsch“ nach einem „ungetrübten Weihnachtsbild“? Bei Tannenduft, Kerzenschein, Zimtgebäck und Corelli-Weihnachtskonzert unterm Weihnachtsbaum zu sitzen, die Welt zu vergessen – und ein wenig glücklich zu sein?
Das ist ein verständlicher Wunsch, denn wenigstens gelegentlich braucht ja jeder Mensch klare Bilder, Orientierung und ungetrübte Freude. Und Weihnachten gehört zu den Gelegenheiten, zu denen dieser Wunsch bei vielen sehr lebendig ist.
Aber dann schiebt sich immer etwas ins Bild – und ich sage „Gott sei Dank!“ Sonst wäre Weihnachten eine Wirklichkeit, die mit der Wirklichkeit unserer Welt und unseres Alltags wenig zu tun hätte.
Gott und wir – wir existierten sozusagen „unberührt“ voneinander. Um dem entgegenzuwirken, rücken wir ja oft ganz bewusst vieles von uns und unserem Umfeld in unser „Weihnachtsbild“. Wenn ich z. B. an die Krippen denke: Wir schmücken sie mit Bäumchen, Zweigen und Blumen aus unseren Wäldern und Gärten. Wir bauen sie in die Kulissen unserer Städte und Häuser, wir bekleiden die Hirten mit unseren Trachten, usw. usw.
Das alles hat eine .Aussagekraft“! Es will sagen: Jesus ist in unsere Welt hinein geboren. Unsere Wirklichkeit ist seine Wirklichkeit. Betlehem ist überall.
Andererseits rückt auch vieles in unser weihnachtliches Bild, das von außen wirklich dunkle Schatten hineinwirft: die Flüchtlingskrisen an den EU-Außengrenzen, Afghanistan, Ukraine, aber auch unsere eigene Ungesichertheit und unser Ausgeliefertsein rücken ins Bild. Pandemie, Krankheit und Tod, Krisen und gescheiterte Lebensentwürfe. Die Schicksale misshandelter und missbrauchter Kinder bleiben im Bild. Die Not um den Arbeitsplatz, um die Finanzierung der Schulden … verschwinden nicht mit dem 25. Dezember.
Und noch anderes schiebt sich in das weihnachtliche Bild, das aus unserem Inneren kommt: unsere Sehnsucht nach Leben, nach Gelingen, nach Glück und Zufriedenheit; unser Beschenktsein und unsere Dankbarkeit. All das schiebt sich hinein in das weihnachtliche Bild und sucht seine Beziehung zu der Botschaft, die dieses Bild verkündet:
„Euch ist heute der Heiland geboren.“
Vieles also schiebt sich ins Weihnachtsbild – und es gehört dort hinein! Schließlich ist auch Jesus vor zweitausend Jahren nicht in eine geschönte Scheinwelt, sondern in unsere „Realität“ hineingeboren worden und hat vom ersten Schrei an die ungeschminkte Lebenswirklichkeit erlebt:
kein Platz in der Herberge, die Geburt im Stall, die Flucht nach Ägypten, das Hineinwachsen ins Leben einer ganz normalen orientalischen Familie.
Meine lieben ND – Geschwister,
gestattet mir einen zweiten Gedankengang, in dem wir das Geschehen in der Eingangsgeschichte einfach einmal umdrehen. Vielleicht kommen wir dem Weihnachtsgeheimnis auch dadurch näher, wenn nicht Frau Müller, sondern Gott „ins Bild“ kommt.
Alle Menschen haben ein „Bild“ von unserer Welt – oft das Bild einer Welt ohne Gott. Den einen ist das gerade recht: Sie brauchen keinen Gott, wollen ohne ihn leben. Er passt ihnen nicht ins Bild. Andere leiden an dieser Welt ohne Gott, denn sie fühlen sich allein gelassen. Sie erleben Sinnlosigkeit und finden keinen Ausblick in eine sinnhafte Zukunft; ihr Bild von der Welt ohne Gott kennt keine Perspektive.
Da schiebt sich zu Weihnachten von Betlehem her jemand ins Bild und das verändert alles: Unser Bild bekommt eine neue Überschrift: Emmanuel: „Gott mit uns!“ – Gott an unserer Seite, Gott auf unserer Erde, mitten in unserem Leben. „Gott mit uns“: nicht, indem er Krankheit, Krieg, Leid und Not beseitigt; nicht, indem er meine Selbstherrlichkeit bestätigt; nicht, indem er Sinnlosigkeit und Dunkel auflöst.
Das ist sein Weg nicht. Der Weg, den er geht, ist ein „MIT-Weg“.
Er wird Mensch und ist „mit“: mit dem Leidenden ebenso wie mit dem, der sich freut und feiern kann. Du findest ihn in Kana bei den Feiernden, am Grab des Lazarus bei den Trauernden, am Kreuz bei den Sterbenden, im Grab, bei den Toten. Und am Auferstehungsmorgen findest du sie alle, – uns alle -, an seiner Seite. Er rückt in unser „Wirklichkeitsbild“. Dort ist sein Platz, seit er in Betlehem Mensch wurde.
Manche stört das – wie bei der Weihnachtsfeier im Seniorenheim. Doch den meisten ist das eine tröstliche Zusage: Gott ist mitten im Bild unseres Lebens. Er ist mit uns in guten und bösen Tagen. Eine wahrhaftig froh-machende Botschaft:
„Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue dich, o Christenheit!“
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!
Euer Regionalkaplan
Gerd Reifer
GR Pfr. i. R.