Statt Ausgrenzung mehr Integration. Das fordert Pfarrer Peter Kossen im Interview über die aktuelle Migrations-Debatte. ND-Mitglied Kossen (56) ist Pfarrer der Pfarrgemeinde Seliger Niels Stensen in Lengerich (Westfalen) und hat den Verein „Würde und Gerechtigkeit“ gegründet, der sich unter anderem für Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie einsetzt.
Die aktuelle politische Diskussion ist von dem Thema Migration geprägt. Man hat das Gefühl, die Grenzen müssten zugemacht, Migration müsste behindert werden – dann würde alles besser werden. Wie sehen Sie die Lage?
Kossen: Ich glaube, dass das wirklich eine Schräglage ist. Unser Land hat viele Herausforderungen und Krisen zu bewältigen. Und Migration gehört nur bedingt dazu. Man kann nicht von Messerattacken – die schlimm genug sind für die Beteiligten – darauf schließen, dass ganze Bevölkerungsgruppen gefährlich sind und deswegen außer Landes gehören. Ich habe einen Nachbarn aus Afghanistan; er ist Maurer und Familienvater sowie mit einer deutschen Frau verheiratet. Er ist tief betroffen davon zu hören, dass Afghanen aufgrund von Vorfällen wie in Aschaffenburg potenziell als gefährlich gelten. Was dazu kommt: Wir sind auf Migration angewiesen! Das hat man unlängst absurderweise gemerkt bei den Überlegungen zur Abschiebung von Syrern nach dem Fall des Assad-Regimes: Man realisierte schnell, wie viele Ärzte aus Syrien gerade in Ostdeutschland tätig sind oder im Pflegebereich arbeiten.
Sie beschäftigen sich seit langem mit der sozialen Situation von Migranten – besonders den prekär beschäftigten Migranten in der Fleischindustrie. Was macht die aktuelle Diskussion mit diesen Leuten?
Kossen: Das beunruhigt sie sehr! Sie fragen sich: Habe ich hier eine Zukunft? Natürlich bringen sie viel Armut mit, aber auch eine große Bereitschaft, hier zu arbeiten!
Wir hatten gerade den Holocaust-Gedenktag; im Bundestag wurden Reden gehalten unter dem Vorzeichen „nie wieder“ Ausgrenzung oder Verfolgung von Bevölkerungsgruppen. Und danach ging es um Eingrenzung der Migration. Ist das nicht doppelt sonderbar?
Kossen: Es folgt einem simplen Mechanismus: Wenn Gesellschaften Krisen erleben, suchen sie Schuldige! Historisch gesehen wurden Randgruppen bevorzugt als solche identifiziert – derzeit trifft es vor allem Migranten sowie Bürgergeldempfänger! Diese Gruppen gelten oft als vermeintliche Schuldige an gesellschaftlichen Missständen. Und leider wird dies durch bestimmte politische Kräfte unterstützt, bis hinein ins Zentrum unserer Gesellschaft. Das entspricht jedoch weder unseren kulturellen noch demokratischen Wurzeln. Viele Deutsche erkennen möglicherweise gar nicht, wie sehr unser Land seit 70 Jahren auf Zuwanderung angewiesen war – seien es Ostflüchtlinge oder Gastarbeiter. Jede gelungene Integration trug zur Prosperität bei, sowohl für Zuwanderer als auch für aufnehmende Gesellschaften! Doch dies wird schnell vergessen; stattdessen gibt’s eine Schere im Kopf zwischen „guten“ Ausländern wie Italienern oder Polen gegenüber denen, die als „nicht integriert“ gelten.
Die Leute aus der Fleischindustrie etwa arbeiten unter extrem harten Bedingungen ohne Zeit, Deutsch zu lernen, während ihnen gleichzeitig die Drecksarbeit zugeschoben wird!
Worüber sollten wir eigentlich sprechen?
Kossen: Statt über Migration zu klagen wäre echte Integration gefragt, inklusive Sprachkurse sowie Wohnmöglichkeiten ohne Ghettos! Auch Beratungen müssen bereitgestellt werden, um Neuankömmlinge bei ihrer Eingliederung ins gesellschaftliche Leben unterstützen zu können! Wenn dies jedoch vielfach versäumt wird, muss man sich am Ende nicht wundern, wenn Parallelwelten entstehen, wo Menschen keinen Zugang zur Gesellschaft finden können.
Ein verstärktes gesellschaftliches Bemühen sollte darauf abzielen, menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen bereitzustellen, damit Migranten ihre Fähigkeiten einbringen können. Sowohl beruflich als auch sozial.